13/06/19
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Forschungs-Straßenbahn zum automatisierten Fahren

Kooperationsprojekt vorgestellt

MAAS: Darmstädter Kooperationsprojekt ermittelt Möglichkeiten und Grenzen automatisierter Straßenbahnen. Erste Messfahrten sind nach den hessischen Sommerferien geplant.

„MAAS ist ein Beispiel für die fruchtbare Zusammenarbeit von Stadtwirtschaft, Wissenschaft und Unternehmen. Kooperationen wie diese stärken die Innovationskraft und Zukunftsfähigkeit von Darmstadt und der Region. Zudem ermöglichen sie es uns, die Chancen des digitalen Wandels zu erkennen und gewinnbringend zu nutzen.“

Jochen Partsch,
Oberbürgermeister Stadt Darmstadt

 

 

Die Fahrgäste merken von den Sensoren nichts, für sie unterscheidet sich eine Messfahrt nicht von einer ganz normalen Bahnfahrt – zumal alle Fahrten im Rahmen des MAAS-Projekts mit einem Fahrer oder einer Fahrerin an Bord stattfinden. © HEAG

Kooperationsprojekt stellt Forschungs-Straßenbahn zum automatisierten Fahren in der Digitalstadt Darmstadt vor

Anlässlich der „Darmstadt Konferenz – gemeinsam.digital.weiterdenken“ der Digitalstadt Darmstadt präsentieren die HEAG, die HEAG mobilo, die TU Darmstadt, die Deutsche Telekom AG und die Digitalstadt Darmstadt am 13. Juni gemeinsam erstmals das Forschungsprojekt MAAS und die dazugehörige Forschungs-Straßenbahn. Das mit Kameras und Sensoren ausgestattete Bestandsfahrzeug der HEAG mobilo ist Teil der Machbarkeitsstudie zur Automatisierung und zu Assistenzsystemen der Straßenbahn (MAAS). Ziel des Projekts ist es, bis April 2021 die Potenziale der Automatisierung von Straßenbahnen zu erforschen. Dabei werden sowohl die Möglichkeiten einer automatisierten Fahrt analysiert, als auch von Teleoperation – also der Fernsteuerung von Bahnen – mittels des Mobilfunkstandards 5G zur Bildübertragung. Neben der HEAG, die das Projekt initiiert hat, beteiligt sich die HEAG mobilo an MAAS, indem sie eine Straßenbahn, Verkehrsinfrastruktur und Personal zur Verfügung stellt. Forschungspartner ist das Fachgebiet Fahrzeugtechnik (FZD) der Technischen Universität (TU) Darmstadt unter der Führung von Prof. Dr. Hermann Winner. Partner aus der Wirtschaft sind die Deutsche Telekom AG, die die 5G-Netzinfrastruktur bereithält und technische Komponenten liefert, sowie weitere Industrieunternehmen, die mit zusätzlicher Hardware unterstützen.

„MAAS ist ein Beispiel für die fruchtbare Zusammenarbeit von Stadtwirtschaft, Wissenschaft und Unternehmen. Kooperationen wie diese stärken die Innovationskraft und Zukunftsfähigkeit von Darmstadt und der Region. Zudem ermöglichen sie es uns, die Chancen des digitalen Wandels zu erkennen und gewinnbringend zu nutzen“, sagt Oberbürgermeister Jochen Partsch und verweist auf die Rolle der Digitalstadt Darmstadt als Innovationslabor. „Im Bereich der Automatisierung von Straßenbahnen sind noch viele Fragen offen. Wir haben 2017 das MAAS-Projekt begonnen, um einen Beitrag zur notwendigen Grundlagenarbeit zu leisten. Uns interessiert, wie die digitale Transformation der Straßenbahn zu Ressourceneffizienz und Verbesserungen im Betriebsablauf beitragen und das Angebot für unsere Kundinnen und Kunden verbessern kann“, ergänzen die HEAG-Vorstände Prof. Dr. Klaus-Michael Ahrend und Dr. Markus Hoschek. Beide betonen, es gehe nicht um die Entwicklung eines vollautomatisierten Serienproduktes, sondern primär um die Identifikation und Bewertung von geeigneten Teilsystemen, mit denen das traditionelle Verkehrsmittel Straßenbahn im digitalen Zeitalter weiterentwickelt werden könne.

Prof. Dr. Stephan Rinderknecht (TU Darmstadt), Michael Dirmeier (HEAG mobilo), Dr. Alexander Lautz (Telekom), Daniela Wagner (Bundestagsabgeordnete), OB Jochen Partsch und Dr. Markus Hoschek (HEAG Holding AG) haben die Bahn im Rahmen der Darmstadt Konferenz vorgestellt. © Digitalstadt Darmstadt / Anja Mendel

Blick in die Zukunft: Automatisierte Straßenbahnen bieten vielfältige Chancen

Der praktische Nutzen der Automatisierung kann in vielen Bereichen liegen: Langfristig ist es denkbar, dass automatisierte Straßenbahnen mit teleoperierter Unterstützung Fahrten in der Nacht und in Randgebiete übernehmen und so das Angebot des öffentlichen Personennahverkehrs wirtschaftlich ausgebaut werden könnte. Vorstellbar ist auch, dass Bahnen ihr Fahrtempo mithilfe intelligenter Software an die Schaltung der Lichtsignalanlagen anpassen. So müssten sie weniger bremsen und beschleunigen, würden den Energieverbrauch sowie die Abnutzung von Verschleißteilen reduzieren und gleichzeitig den Fahrkomfort und Verkehrsfluss verbessern. Elektronische Assistenzsysteme wie Kollisionswarner, Notbremssysteme oder Tot-Winkel-Assistenten böten ein zusätzliches Plus an Sicherheit. Aus Sicht von Michael Dirmeier, Geschäftsführer von HEAG mobilo, gibt es noch weitere Vorteile: „Eine Bahn auf dem Betriebshof zu rangieren ist aufwendig. Wäre sie in der Lage automatisiert zu ihrer Zielposition zu fahren, würde das unsere Abläufe vereinfachen und wir könnten den Einsatz von Personal und Maschinen sowie den Platzbedarf optimieren.“ Wie und wann diese Szenarien umgesetzt werden, ist noch offen, denn die Anforderungen an die Automatisierung sind hoch. Prof. Dr. Stephan Rinderknecht, Dekan des Fachbereichs Maschinenbau an der TU Darmstadt, erklärt: „Straßenbahnen nehmen am öffentlichen Straßenverkehr teil und müssen daher schnell und zuverlässig auf unerwartete Hindernisse und Verkehrsteilnehmer reagieren können. Hierfür ist es notwendig, dass Bahnen ihre Umgebung umfassend wahrnehmen und Situationen richtig bewerten.“ Aus Sicht des Wissenschaftlers liegen hierin die größten Herausforderungen.

Messfahrten liefern wichtige Datenbasis

Um Lösungsansätze zu finden, geht MAAS unter anderem folgenden Forschungsfragen nach: Welche Sensortechnologien eignen sich, um das Fahrumfeld gut zu erfassen? Worauf müssen Assistenzsysteme achten, wenn Straßenbahnen durch Fußgängerzonen fahren? Wie lassen sich die Funktionen des Fahrbetriebs automatisieren? Beantworten möchte MAAS diese Fragen auf Basis von Aufnahmen aus realen Fahrsituationen. Hierfür sollen möglichst unterschiedliche Umfeldsensoren (wie Radar, Lidar und Ultraschall), aber auch Kameras (Stereo, Nahfeld, Fern-IR und Fisheye) eingesetzt werden. Zudem werden globale Satellitennavigationssysteme (GNSS) zur Lokalisierung, ein Computer sowie Mobilfunktechnologie und eine Steuerungsschnittstelle verwendet. „Ab Sommer 2019 wird die MAAS Straßenbahn regulär im Linienbetrieb eingesetzt, wobei die Bahn umliegende Objekte, Gleise, Verkehrszeichen und Lichtsignalanlagen aufzeichnen wird“, sagt Prof. Dr. Stephan Rinderknecht. Die Fahrgäste merken davon nichts, für sie unterscheidet sich eine Messfahrt nicht von einer ganz normalen Bahnfahrt – zumal alle Fahrten im Rahmen des MAAS-Projekts mit einem Fahrer oder einer Fahrerin an Bord stattfinden. Die gesammelten Daten werden entsprechend dem Stand der Technik digital verschlüsselt und vor unbefugtem Zugriff geschützt. Personen auf Aufnahmen werden nicht identifiziert.
Daten aus echten Fahrsituationen sind unerlässlich für den Erfolg von MAAS. Sie erlauben einen systematischen Blick auf den gesamten Fahrbetrieb und zeigen, auf welche Gegebenheiten ein automatisiertes System später reagieren muss. Darüber hinaus sind sie die Grundlage, auf der die Wissenschaftler einen funktionsfähigen Algorithmus entwickeln werden. Mit dessen Hilfe soll die Straßenbahn lernen, Elemente sicher zu unterscheiden, einzugruppieren und situationsbedingt die richtigen Aktoren anzusteuern. Um zu überprüfen, wie die Technik das Umfeld erfasst und auf Vorkommnisse reagieren würde, wird der Algorithmus bei weiteren Testfahrten still im Hintergrund mitlaufen – ohne den Fahrbetrieb zu beeinflussen.

Teleoperation stellt hohe Anforderungen an Technik

Die Projektpartner sind sich einig, dass der vollautomatisierte Betrieb von Straßenbahnen noch Zukunftsmusik ist. In einem Teilprojekt untersucht MAAS daher, inwieweit der teleoperierte Betrieb von Straßenbahnen die Automatisierung ergänzen kann. Diese Ausrichtung ist ein Alleinstellungsmerkmal des Projekts. MAAS fragt unter anderem danach, welche Informationen in welcher Qualität zwischen Straßenbahn und Operator-Fahrplatz ausgetauscht werden müssen und welche Techniken sich hierfür eignen. Michael Dirmeier erklärt, was die ferngesteuerte Bedienung der Straßenbahn für MAAS interessant macht: „Bleibt eine vollautomatisierte Straßenbahn aus Sicherheitsgründen stehen, weil sie ein Hindernis auf den Gleisen erkannt hat, kann einer unserer Mitarbeiter die Steuerung aus der Ferne übernehmen und die Situation lösen.“ Vorstellbar wäre auch, Streckenabschnitte auf Überlandfahrten später für den vollautomatisierten Betrieb freizugeben und innerorts Teleoperation hinzuzuschalten.
Die technischen Ansprüche an Teleoperation sind jedoch hoch, denn die Kommunikation zwischen Straßenbahn und Zentrale ist datenintensiv und muss nahezu in Echtzeit erfolgen. Der derzeitige Mobilfunkstandard LTE (4G) wird hier mittelfristig an seine Grenzen geraten, da in Ballungszentren wie Darmstadt zu viele Nutzer auf die Kapazitäten einer Funkzelle zugreifen und die Latenz für einen teleoperierten Fahrbetrieb zu hoch erscheint. Abhilfe verspricht daher der neue Mobilfunkstandard 5G. „Diese Technologie erlaubt es, große Datenmengen, zum Beispiel Bilddaten in hoher Qualität, binnen Millisekunden zu übertragen. Die Beteiligung im MAAS-Projekt bietet uns die Gelegenheit, 5G in einem neuen Anwendungsszenario zu untersuchen.“, sagt Dr. Alexander Lautz, Senior Vice President 5G der Deutschen Telekom. Welchen Mehrwert ein 5G Netz für die Automatisierung der Straßenbahn liefert, werden weitere Testfahrten der Forschungstram ergeben. Die Tests basieren zunächst auf dem bestehenden LTE-Standard, später soll 5G folgen. Alle teleoperierten und autonomen Testfahrten finden mit einem ausgebildeten Straßenbahnfahrer und ohne Fahrgäste statt. Im ersten Schritt sind ferngesteuerte Fahrten auf dem Betriebsgelände der HEAG mobilo geplant, im zweiten Schritt auf einer Teststrecke außerhalb der Innenstadt, die vom Hauptbahnhof aus in Richtung Griesheim führt, wo die Telekom bereits entsprechende 5G-Antennen aufgebaut hat. Dies erfolgte erstmalig für Deutschland in der Digitalstadt Darmstadt.

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